Oper “Turandot” als überwältigendes Konzert beim SHMF in Lübeck

Als Arturo Toscanini am 25. April 1926 die Uraufführung der “Turandot” an der Mailänder Scala dirigierte, brach er die Premiere vor dem himmelhoch jauchzenden Schluss-Duett mit den Worten ab: “Hier endet das Werk des Meisters.” Tatsächlich konnte der anderthalb Jahre zuvor verstorbene Giacomo Puccini seine letzte Oper nicht mehr vollenden, aus den 36 erhaltenen Skizzenblättern konstruierte sein Landsmann Franco Alfano ein Finale, das die märchenhafte China-Oper spielbar machen sollte. Für die Folgeaufführungen griff Toscanini auf Alfanos Version zurück, kürzte sie indes radikal. In dieser Fassung aber geht “Turandot” heute meist über die Bühne, und fast immer bleibt die allzu plötzliche Wandlung der männermordenden Gefühlserfrorenen zur glühenden Liebenden unglaubwürdig. Ein einziger Kuss des unbekannten Tatarenprinzen Calaf reicht – und Turandot schmilzt dahin.

Als Keri-Lynn Wilson nun Puccinis Schwanengesang anlässlich des China-Schwerpunkts des Schleswig-Holstein Musik Festivals in der Lübecker Musik- und Kongresshalle dirigierte, bewies die Maestra aus dem kanadischen Winnipeg kluges Feingefühl: Nach dem erschütternden Tod der Liù und dem kurzen Trauermarsch für die junge Sklavin ließ die einstige Assistentin von Claudio Abbado einige erschütternd hoch gespannte Sekunden der Stille verstreichen.

Erst dann setzte sie erneut ein, um den Auftakt für die vokale Vereinigung der hieratischen Prinzessin mit ihrem heißblütigen Erlöser zu geben. Genau so löst man den Widerspruch zwischen Werkerkenntnis und Theaterpraxis genialisch auf: Man benennt den Bruch, in doppelter Verneigung vor Puccini, und Toscanini und enthält dem Publikum doch die ersehnte sopran-tenorale Eruption nicht vor.

Überhaupt besticht die Dirigentin durch die attraktive Eleganz ihrer Bewegungen, die absolute Souveränität in der Koordination der orchestralen und choralen Kollektive und ein ausgeprägtes agogisches Gespür für die Italianità der Partitur. Unter Wilsons beflügelnden Händen erhalten Puccinis Melos und seine harmonisch hochmoderne Klangsprache eine fantastische Wirkungsmacht. Die NDR Radiophilharmonie macht eine Bella Figura.

So grandios direkt an diesem Abend die Wucht der Oper ihren Ausdruck findet, so kommt auch das impressionistische Schillern der Musik zur Geltung. In dieser Hinsicht erweist sich der Schleswig-Holstein Festival Chor als absolutes Spitzenensemble. Da ist diese jugendliche Frische der Sängerinnen und Sänger der Chorakademie, die mit den innig milden Sopranen oder den virilen Tenören Puccinis charakteristischen Einsatz von Volkes Stimme – mit seinen Knaben, Herolden und Henkersknechten – ideal verkörpern. Und da ist der kollektive Wille zur vokalen Überwältigung, den Keri-Lynn Wilson nach der Vorarbeit von Sören Eckhoff in allen Mitwirkenden entfesselt. Der Chordirektor der Bayerischen Staatsoper München hat mit seiner Einstudierung Großes geleistet. Der Festivalchor ersang sich also eine heimliche Hauptrolle, und auch bei der Besetzung der offiziell zentralen Partien bewies das SHMF eine glückliche Hand. Ließen sich zwei der Nebenrollen – Andrew Mahon als Mandarin und Berj Karazian als Prinz von Persien – sogar erstklassig durch Chormitglieder besetzen, fuhr das Festival ansonsten internationale Schwergewichte auf.

Die schönste Stimme des Abends gehört der Liù von Iwona Sobotka. Ihre stille Emphase des Lyrischen ist einfach anrührend, ihr delikates Vibrato und ihre schwebenden Piani zeugen von der hingebungsvollen Liebe der Sklavin zu ihrem Herrn. Eben diesen Prinzen Calaf singt Marco Berti mit der dunklen Glut und männlichen Verve seines Heldentenors und beeindruckender Emotionalität. Ein minimales Zwischentief im nicht ganz frei strömenden Welthit “Nessun dorma” tat dem keinen Abbruch. Seine fiebrig heiß angebetete Eisprinzessin Jennifer Wilson gibt der Verletztheit der Turandot in starken Piani Ausdruck, bietet ihrem Herausforderer mit machtvollen Acuti Paroli. Kostüme und Bühnenbild vermisste an diesem Abend niemand, so farbig prall vermittelte uns die Musik selbst das brutal schöne Märchen. Ferntrompeten und -posaunen auf der Empore taten das ihre für die fantastische Inszenierung des puren Pucciniklangs.

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