Auch wer die Qualität der Lüneburger Kirchenmusik seit vielen Jahren kennt, ist immer wieder neu erstaunt, auf welch absolut professionellem Niveau hier die großen Werke von Bach bis Berlioz, Schütz bis Schumann und in diesem Fall Verdi aufgeführt werden. Joachim Vogelsänger hat das Verdi-Requiem in St. Johannis mit seiner leidenschaftlich zu Werke gehenden Kantorei geradezu plastisch und zugleich unter die Haut gehend in Szene bzw. Klang gesetzt – mit prächtigen Solisten und sehr gut aufgelegten Hamburger Symphonikern. Das Publikum in der gut besuchten Kirche reagierte begeistert – mit langem Schweigen. Dann prasselte (künstlerisch verdienter) Applaus über die Totenmesse hernieder.

Verdi, der kein Mann der Institution Kirche war, hat mit fast sämtlichen musikalischen Mitteln, die in seiner Zeit denkbar waren, ein Werk geschaffen, das alles Irdische sprengt. Verdi bewegt sich im Text-Gerüst des Requiems, baut es sich aber höchst individuell zurecht. Ebenso nutzt er Fundamente der Kirchenmusik, blickt zurück bis Gregorianik und Palestrina, formt große Chorfugen. Doch die Form wird zugleich runderneuert und mit einem extremen Maß an Subjektivität und Emotion ausgefüllt.

Verdi ist durch und durch Dramatiker. In seiner sakralen Nicht-Oper aus Schönheit, Angst und Schrecken trifft die Ausschmückung der Apokalypse auf die reinste Form der Poesie. Die Kontraste können nicht härter und erschütternder sein – und ergeben doch ein Ganzes. Das zelebriert Vogelsänger mit seinen Mitstreitern, bis hin zum Finale: Da fährt die Musik mit physischer Gewalt noch einmal durch Mark und Bein (“Dies irae”), um sogleich vom Sopran allein (“Requiem aeternam. . . “) ins Seelenvollste gewendet zu werden.

Dieser Sopran! Iwona Sobotka, kurzfristig eingesprungen, hat keine Mühe, die von Verdi dem Sopran reichlich zugeschriebene Dramatik mit Lust an der Gestaltung und doch fern aller Opernhaftigkeit auszureizen. Zugleich gibt sie der Innigkeit Farbe und Wärme, formt sie brillante Crescendi, lässt ihre Stimme in den Fortissimo-Passagen über alle und alles hinweg leuchten – das ist erste Klasse! Pracht- und machtvoll besetzt Bass Kay Stiefermann mit “schwarzer” Tiefe und viel Emotion den Gegenpol. Eva Leitner bringt ihren Alt mit klangvollem, warmem Timbre, Innerlichkeit und Ausdrucksstärke ein. Tenor Andreas Post kann mit der Klarheit seiner Stimme auch im Verdi-Requiem seine Klasse in ariosen, deklamatorischen Passagen einbringen und ist auch sonst in den Ensembles jederzeit präsent und auf der Höhe der Kollegen.

Joachim Vogelsänger bringt die konzentrierte Masse der Klangfarben und permanenten dynamischen Wechselbäder zu einer Einheit und das in einer Interpretation, die auf Klarheit und Schärfe der Formulierung setzt. Diese Aufführung ist frei von fettem Pathos, lässt aber so manches Mal den Atem stocken – und das mehr noch als in den Weltuntergangsszenarien in den Momenten des Innehaltens (“Mors stupebit. . . “).

Die mit starker Männerbesetzung antretende, hochmotivierte Kantorei leistet dazu Unwahrscheinliches. Sie singt, flüstert, stammelt, “schreit” in geschliffener Wiedergabe, ist dem hohen Anspruch, den Werk und Dirigent setzen, jederzeit gewachsen. Dazu lassen die Hamburger Symphoniker die Erde in Heulen und Donnern untergehen und malen dann wieder mit der Oboe, mit den Geigen und Bratschen feinste poetische Gespinste und was immer dieses Werk fordert. Das Verdi-Requiem hat sich fest ins musikalische Kirchengeschehen eingeschrieben – in der Klasse dieser Aufführung allemal.

Log in with your credentials

Forgot your details?